Vor
etlichen Jahrzehnten übernachtete ich auf Usedom
in einem Hotel mit dem Namen Vineta. Aus den
Hotelinformationen und später auch aus anderen
Quellen informierte ich mich über den Ursprung
des Hotelnamens. Demnach war Vineta einst eine
sehr reiche Stadt, die vor langer Zeit durch einen Sturm
in der Ostsee versank. Ob es die Stadt wirklich einmal
gab, konnten Archäologen bisher nicht beweisen.
Einige Forscher vermuten sie in der Ostseeküste
vor Usedom, andere vor der Insel Rügen. Es gibt
verschiedene Varianten der Sage über Vineta.
Im Zentrum schlummert jeweils folgender Inhalt:
Vineta
war eine sehr große, schöne und bedeutende
Stadt an der Ostseeküste, die mit aller Welt
erfolgreich Handel trieb. Die christlichen Einwohner
führten ein rechtschaffenes Leben und wurden
immer wohlhabender. Sie errichteten majestätische
Kirchen und hängten in den Türmen Glocken
aus reinem Silber auf. Doch nachdem es allen Bürgern
gut und immer besser ging, vergaßen sie die
christlichen Tugenden und verfielen in die größten
Laster. Drei Monate vor dem Untergang erschien ein
Lichtgebilde der Häuser und Türme von Vineta
über dem Meer. Die Ältesten der Stadt werteten
die Erscheinung als Warnung und rieten den Bürgern,
die Stadt zu verlassen. Wenige Wochen später
warnte auch eine aus dem Meer aufgetauchte Frau ebenfalls
vor dem Untergang der Stadt. Doch die Einwohner beachteten
die Mahnungen nicht. Wegen ihres lasterhaften Lebenswandels
zog ein mächtiger Sturm auf und die gesamte Stadt
versank in der Ostsee, mit allen Gebäuden, Menschen
und Tieren.
Doch
im versunkenen Vineta
ist noch heute merkwürdiges Leben zu beobachten.
Bei ruhiger See sieht man auf dem Meeresgrund die
Lichter der Stadt, und wer genau hinhört, vernimmt
das leise Läuten der silbernen Glocken. Am Ostermorgen,
in aller Frühe, sehen Sonntagskinder, wie Vineta
mit all ihren Stadtmauern, Kirchen und Häusern
als warnendes Schattenbild aus den Fluten der Ostsee
auftaucht. Wehe dem Schiff, das sich Vineta
dann nähert. Unweigerlich wird es an den spitzen
Felsen der Stadtumrandung zerschellen und keiner der
Insassen kann sein Leben retten.
So
weit die Sage von Vineta. Mich fasziniert, wie
in dem Mythos symbolisch bedeutende christliche Lehren
eingebettet sind. Offensichtlich ist, dass Menschen,
die göttliche Gebote befolgen, mit Wohlstand gesegnet
werden. Verlassen sie das rechtschaffene Leben, so missachten
sie Warnungen, werden stolz und hochmütig, worauf
eine Bestrafung zwangsläufig folgt, früher
oder später.
Doch
nachdem die Stadt versunken ist, könne man am Meeresgrund
noch immer die Gebäude, deren Lichter und die Einwohner
sehen. Auch die silbernen Glocken seien angeblich noch
zu hören.
Ich
erkenne darin die christliche Lehre, dass die Menschen
nach ihrem Tod in einer anderen Welt weiterleben. Dort
sind sie nicht untätig und werden sogar belehrt,
denn die Glocken in der Sage rufen zum Gottesdienst,
auch unter Wasser, also in der anderen Welt. Der Apostel
Petrus weist in seinem Brief aus Rom darauf hin, dass
Jesus zu den Geistern im Gefängnis ging, jenen,
die in ihrem lasterhaften und uneinsichtigen Lebenswandel
gefangen waren:
»Denn
auch Christus ist einmal um der Sünden willen
gestorben, als Gerechter für Ungerechte, um uns
zu Gott zu führen, er, der am Fleisch zwar getötet
worden ist, aber zum Leben erweckt am Geist. Im Geist
ist er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis
gepredigt, nämlich denen, welche einst ungehorsam
gewesen waren ...«²
Warum
wird die versunkene Stadt nur am Ostermorgen von am
Sonntag Geborenen gesehen? - Ich erkenne darin folgende
Symbolik. Wir feiern Ostern, um an Jesu Auferstehung
zu erinnern. Symbolisch aufersteht auch die Stadt Vineta
aus der Ostsee, aus einer anderen Welt. Aber nicht jeder
kann die Erscheinung sehen. Nur die am Sonntag Geborenen
können sie sehen. Das sind jene, die sich dem Evangelium
zugewendet haben, von neuem geboren (getauft) wurden
und sonntags den Gottesdienst besuchen, die Sonntagskinder.
Ihnen wird exklusives Wissen offenbart. Indem sie die
auftauchende Stadt sehen, erkennen sie klar und deutlich
die göttlichen Gebote und deren Bedeutung. Der
Ostermorgen, also der Ostersonntag, ist jener Tag, an
dem Jesus auferstanden ist. Wer sich jenem Jesus zuwendet,
sieht und erfährt Dinge, die anderen verborgen
bleiben.
Zum
Schluss der Sage gibt es dann noch eine Warnung an alle
Seefahrer. Nämlich, wenn ihr euch der Stadt Vineta
nähert, was bedeutet, indem ihr die Lebensweise
jener Bürger annehmt, dann seid ihr verloren. Das
gilt vermutlich nicht nur für Seeleute.
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¹ Vineta
² 1.
Petrus 3:18-20
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