Die Macht der Gewohnheit
Von Reinhard Staubach

Gewohnheiten haben Vor- und Nachteile. Manche Verhaltensweisen möchte man sich aneignen, weil sie Vorteile bringen. Andere will man loswerden, weil sie unnütz oder gar falsch sind. Sowohl die eine als auch die andere Bemühung erweist sich zuweilen als erstaunlich schwierig.

»Ich residiere in einem Anwesen, in dessen unmittelbarer Nähe die Kommune mehrere Container aufgestellt hat, in denen die Bürger Glas (für jede Farbe einen eigenen Container), Altkleider und Blech entsorgen sollen. Das tun sie auch sorgfältig und regelmäßig.

Die Container für Glas sind metallisch grau verzinkt. Der für Altkleider ist feuerrot angestrichen und der für Metall beige und aus robustem Plastik. Alle wurden mit deutlicher Aufschrift versehen, wo jeder nachlesen kann, wo beispielsweise das Grünglas, das Braunglas, die leeren Sardinendosen und so weiter hinein zu werfen ist. Regelmäßig kommt ein großer LKW, der die Container mit viel Getöse entleert.

So weit, so gut. Jahrzehntelang pilgerten die Einwohner mit ihren leeren Flaschen, Konservendosen, und abgetragenen Kleidern zum Sammelplatz, einige mit vollen Schubkarren oder ganzen PKW-Ladungen. Gelegentlich beobachtete ich den einen oder anderen bei dessen gewissenhafter Tätigkeit, sich von wieder verwendbaren Rohstoffen zu befreien. Dann geschah das Unvorhergesehene.

Das Entsorgungsunternehmen lud den Container für Blech auf und entfernte ihn. Der Grund war offensichtlich, er hatte einen Riss bekommen, und Blechdosen quetschten sich aus seinem Bauch. Ein neuer Container wurde angeliefert. Der neue war jedoch nicht beige, sondern glich in Form und Farbe den Glascontainern. Damit nicht genug, er war ein wenig größer als der bisherige und passte nicht an den Platz, wo der alte gestanden hatte. Denn dort ist der Raum durch einen Zaun eingeschränkt. Also stellte man die neue Box ganz vorn in die Reihe. Ein riesiges Schild kennzeichnete den neuen Großbehälter als zuständig für Blech und anderes Metall.

Als ich wenige Tage später ein paar leere Konfitüregläser zur Sammelstelle brachte, traute ich meinen Augen nicht. Am Boden, wo der bisherige Metall-Container gestanden hatte, blinkten etliche leere Blechdosen. Und dabei stand der Metall-Container nur wenige Schritte entfernt. Sollte es Analphabeten in unserem beschaulichen Dorf geben? - Ich hob die Dosen auf und warf sie in den vorgesehenen Container.

Eine Woche später, ich brachte Flaschen zum Sammelplatz, lagen wieder leere Konservendosen, wo einst der alte Container gestanden hatte. Ein größerer Berg hatte sich aufgetürmt. Wieso wurde der neue Container am Anfang der Reihe übersehen? Oder war er bereits voll? Nein. Weit und breit kein Mensch. Der Sardinendosen-Blechberg konnte nicht von einem blinden Mitbürger allein hierher getragen worden sein. Denn ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass jemand den wöchentlichen Fang einer Sardinenfischer-Flotte in fünf Tagen verspeist. Da mussten mehrere Missetäter am Werk sein.

Von meiner Penthouse-Terrasse kann ich auf die Sammelstelle blicken. Bisher hatte es mich nicht interessiert, wer dort wann und was entsorgt. Doch nun passte ich auf, wer sich nicht an die Vorschriften hielt. In schöner Regelmäßigkeit sah ich hinüber und erwischte - niemanden. Aber immer wieder warf irgendwer seine Dosen auf den leeren Containerplatz.

Es dauerte etliche Wochen, um genau zu sein Monate, bis meine Mitbürger den richtigen Container entdeckt hatten.«1

Das Geschehen am Entsorgungssammelplatz zeigt einerseits, wie hartnäckig Gewohnheiten sind, selbst wenn sich die Umstände geändert haben. Andererseits wird aber auch sichtbar, dass sich Verhaltensweisen verändern lassen. Etliche Gewohnheiten schleichen sich ins Leben wie beispielsweise eine pessimistische Lebenseinstellung. Andere Gewohnheiten müssen mühsam erlernt werden wie etwa eine gesunde Ernährung.

Hat man eine unnütze oder gar schädliche Angewohnheit an sich entdeckt, ist es meist nervtötend, sie wieder loszuwerden. Die Fesseln der Gewohnheit kann man deshalb so schwer abschütteln, weil sie zunächst extrem leicht sind. Man bemerkt nicht, wie sie heimlich an Gewicht zulegen, sich anketten und dann den Schlüssel wegwerfen. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain gab folgenden Rat: »Eine Gewohnheit kann man nicht einfach zum Fenster hinauswerfen; man muss sie Stufe für Stufe die Treppe hinunterlocken.«2  Das Verfahren mag beim Ablegen vieler Marotten hilfreich sein. Sind jedoch süchtig machende Substanzen wie Tabak, Alkohol oder andere Drogen im Spiel, ist oft professionelle Hilfe erforderlich.

Neben den schlechten Angewohnheiten gibt es zugleich gute Gewohnheiten, die man getrost beibehalten sollte, weil sie Vorteile bringen. Von Jesus wird im Neuen Testament berichtet: »So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge.«3  Es ist sicherlich eine gute Gewohnheit dem Beispiel Jesu zu folgen und regelmäßig den Gottesdienst zu besuchen.

Außer religiösen Gewohnheiten gibt es unzählige andere Verhaltensweisen, die sich positiv auswirken. Der englische Gelehrte und Schriftsteller Samuel Johnson behauptet: »Die Angewohnheit, jedes Geschehnis von seiner besten Seite anzusehen, ist mehr Wert als tausend Pfund Sterling im Jahr.«4  Doch eine gute Angewohnheit zahlt sich nicht nur finanziell aus. Gegenwärtig will niemand alt werden, sondern ewig jung bleiben. Da mag die Einsicht der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hilfreich sein: »Man bleibt jung, solange man noch lernen, neue Gewohnheiten annehmen und Widerspruch ertragen kann.«5

Eine ruinöse Angewohnheit durch eine effiziente zu ersetzen, ist ebenfalls eine sinnvolle Methode, sich zu verändern. Gelingt es nach dem ersten oder zweiten Versuch nicht, bleibt nur: Üben, üben, üben ...

 

 

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1 Ermunterung ist steuerfrei, Der Metall-Container, S. 100
2 MarkTwain, 1835-1910
3 Lukas 4:16
4 Samuel Johnson, 1709-1984
5 Freifrau Marie Ebner von Eschenbach, 1830-1916



      

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Gewöhne dich
nicht an die Lüge;
denn diese Gewohnheit
bringt nichts Gutes.

Jesus Sirach 7:13


      

© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Freitag, 09-Aug-2024