Wir lieben Geschichten
Von Reinhard Staubach

Den Geschichtsunterricht während meiner Schulzeit empfand ich oft nervig und schlicht uninteressant. Lehrer bombardierten uns im Telegrammstil mit Fakten, Namen und Daten, die ich mir nicht merken konnte. Auch ein Blick ins Geschichtsbuch steigerte nicht mein Interesse. Und dann wurden auch noch mündlich und in Klassenarbeiten Details abgefragt und bewertet. Entsetzlich.

Doch es gab einen Lehrer, der den Geschichtsunterricht völlig anders gestaltete. Oliver Meyer, wir Schüler nannten ihn Olli, setzte sich auf das Lehrerpult und erzählte, was geschehen war. Das tat er so unterhaltsam, dass alle aufmerksam zuhörten. Er berichtete mit ruhiger Stimme auf eine Art und Weise, als wäre er selbst dabei gewesen. Ein Bericht aus erster Hand, sozusagen. Dabei spielte es keine Rolle, ob er von den Germanen, den Römern oder dem Dritten Reich erzählte. Er wusste unglaublich viele Details über die historischen Ereignisse und brauchte kein Manuskript. In der Klasse war es stets mucksmäuschenstill, niemand schlief, alle 40 Schüler lauschten gespannt. Ich kann mich nur an eine Unterrichtsstunde erinnern, in der Olli unabsichtlich gestört wurde. Über das Ereignis berichte ich in meinem Buch »Ermunterung ist steuerfrei«¹. Der Geschichtsunterricht mit Lehrer Oliver Meyer war stets etwas Besonderes. Offenkundig wusste er um die Magie von Geschichten und fesselte unreife Jungen im Geschichtsunterricht damit.

Auch Jesus Christus kannte die Bedeutung von Geschichten. Er verpackte seine Botschaften in Erzählungen, die wir oft Gleichnisse nennen. So lehrte Jesus beispielsweise: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ein Zuhörer fragte nach: Wer ist mein Nächster? Daraufhin erzählte Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter, der einem Mann half, nachdem er von Räubern überfallen, ausgeplündert und halbtot liegengelassen worden war².

Bei einer anderen Gelegenheit lehrte Jesus, dass man auch jene Menschen lieben soll, die es offenbar nicht verdient haben, weil sie gute Ratschläge in den Wind schlugen und egoistisch auf unmoralischen Wegen wandelten. Diese Lektion steckt in der Geschichte vom verlorenen Sohn. Einer von zwei Söhnen verlangte vom Vater, sein Erbe vorzeitig ausgezahlt zu bekommen. Der Vater gab ihm das Geld, der Sohn zog hinaus in die Welt und verprasste alles. Nachdem er nichts mehr besaß, kehrte er reumütig und heruntergekommen zum Vater zurück. Jener nahm ihn freudig auf und richtete für den Heimkehrer ein Fest aus. Der daheimgebliebene Bruder hatte jedoch ein Problem mit dem Verhalten des Vaters. Die ausführliche Geschichte steht in der Bibel³.

Diese und viele andere Gleichnisse Jesu sitzen tief im Gedächtnis der Christen. Die Geschichten veranschaulichen Lehren und Gebote, die haften bleiben. Ebenso stecken in vielen Märchen weise Botschaften. Wir lieben Erzählungen. Die Medienindustrie lebt davon, uns täglich neue Storys zu präsentieren. Und nicht selten bemühen sich Zuschauerinnen und Zuschauer, den Originalschauplatz eines eindrucksvollen Berichts zu besuchen. Die Geschichte und das Erlebnis bleiben dann markant im Gedächtnis.

So erging es auch mir auf einer Reise, bei der ich gar nicht geplant hatte, den folgenden Schauplatz zu besuchen. Im Geschichtsunterricht hatte ich zwar viel über den Zweiten Weltkrieg gehört. Später sah ich auch etliche Filme über die Kriegsereignisse. Doch wenig blieb davon in mir haften. Als ich dann vor Jahren auf einer Polenreise in Danzig etliche Wegweiser mit der Aufschrift »Westerplatte« sah, machte mich das neugierig. Die deutsch klingende Ortsangabe neben all den Wegweisern in polnischer Sprache sprang mir ins Auge. Ich fuhr zur Westerplatte, stand ergriffen vor dem dort aufgestellten Denkmal und las die Informationen. Erst an jenem Ort wurde mir eindrucksstark bewusst, was da geschehen war. Deutsche hatten am 1. September 1939 begonnen, das polnische Munitionslager auf der Halbinsel Westerplatte zu beschießen. Eine kleine polnische Garnison hielt sieben Tage lang stand. Dieser Überfall markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Während theoretische Lehren oft schnell verpuffen, bleiben Geschichten und Erlebnisse bisweilen beharrlich im Gedächtnis und prägen intensiv unser Leben.

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¹ Reinhard Staubach, Ermunterung ist steuerfrei, S. 14 ff
² NT, Lukas, 10:25-37
³ NT, Lukas, 15:11-32


 



      

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Jede gute Erzählung,
sowie Dichtung,
umgibt sich von selbst mit Lehren.

Jean Paul
(1763-1825)


      

© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Freitag, 09-Aug-2024