Die Dauerwellenmaschine
Von Reinhard Staubach

Immer wieder entdecke ich auf Flohmärkten Objekte, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Einst erblickte ich ein Gerät, welches mich neugierig machte. Geheimnisvolle Röllchen, Hebel und Spiralen steckten in dem Apparat. Auch nachdem ich ihn von allen Seiten eingehend beäugte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, wozu das Gerät jemals gedient haben könnte. Ich fragte die Verkäuferin.

»Das ist eine Dauerwellenmaschine«, war die knappe Antwort. Und schon wandte sie sich einem Flohmarktbesucher zu, der eine Porzellanfigur in der Hand schwenkend zu handeln begann.

Aha, eine Dauerwellenmaschine¹. – Aber wo war die Öffnung für den Kopf? Irgendwo musste man in das angerostete Ungetüm von der Größe eines mittelprächtigen Wochenendkoffers doch den Kopf stecken. Wie sonst sollte die Maschine aus platten Kopfhaaren herrliche Dauerwellen formen? Noch nie im Leben hatte ich mir beim Friseur Dauerwellen machen lassen, was bei meiner Haarpracht auch eine echte Herausforderung für jeden Figaro gewesen wäre. In jedem Salon gab es Hauben, die über den Kopf gestülpt das feuchte Haar trockneten. So, oder ähnlich sollte wohl die Dauerwellenmaschine funktionieren, dachte ich. Vermutlich klappte man den ominösen Apparat irgendwie auf.

Endlich hatte sich die Flohmarktverkäuferin mit dem Kunden über den Preis der angestoßenen Porzellanfigur geeinigt. Ich fragte sie: »Wo steckt man denn da den Kopf hinein?« Die Händlerin lachte kurz auf und begann zu erklären, wie die Dauerwellenmaschine funktioniert.

Das Gerät diente dazu, kleine Stifte in der Größe von etwas zu dick geratenen Zigaretten elektrisch zu erhitzen. Um die heißen Stifte wurden dann die Haare gewickelt, wodurch jene ihre aufgelockerte Form erhielten, die Dauerwelle.

All mein Wissen, meine Vorstellungskraft und meine Fantasie hatten mir nicht geholfen zu erkennen, wozu das geheimnisvolle Gerät einst gebraucht wurde. Erst als ich nachhakte, erhielt ich eine erhellende Antwort. Ich hätte mich mit der ersten Antwort zufriedengeben können, dass es eine Dauerwellenmaschine sei. Doch dann begannen meine Erfahrungswerte im Oberstübchen zu rotieren und fragten: Halt stopp, wo ist das Loch für den Kopf? Ich erwartete in der Dauerwellenmaschine eine Öffnung wie bei den Trockenhauben. Ein Trugschluss.

Den gleichen gedanklichen Fehler können wir ebenso in anderen Bereichen des Lebens machen. Von bereits Bekanntem ausgehend, glauben wir bei neuen Entdeckungen deren Anwendung, Funktion, Inhalt oder Form zu kennen. Im ungünstigsten Fall denken oder sagen wir: Kenne ich!

Dieses Verhalten hat Vorteile, denn es hilft uns, sich schneller im Leben zurechtzufinden und die Menschen und die Dinge, die uns umgeben einzuordnen. Doch das Urteil, »kenne ich«, birgt die Gefahr, das Ungewöhnliche und Neue nicht zu bemerken.

Aus der Geschichte über die Entdeckung Amerikas wird berichtet, dass die Ureinwohner die Schiffe nicht sahen², mit denen Kolumbus bereits sehr nahe an die Küste gesegelt war. Nur ein Ureinwohner bemerkte am Horizont ein merkwürdiges Flimmern. Er schaute immer wieder hin und plötzlich erkannte er die Schiffe. Er sagte es den Leuten, die mit ihm waren. Sie sahen zunächst nichts, doch dann erkannten auch sie die Schiffe.

Schiffe, wie die Spanier sie zu jener Zeit bauten, waren den Ureinwohnern Amerikas unbekannt. Was unbekannt ist, wonach man nicht ausschaut, kann man leicht übersehen.

Mit den anderen Sinnesorganen verhält es sich entsprechend. Steigt man beispielsweise in ein Auto, so kann es geschehen, dass einem die Fahrgeräusche ganz normal vorkommen. Erst nachdem uns ein Mitfahrer auf ein merkwürdiges Surren aufmerksam gemacht hat, hören wir das Surren ebenfalls. Manche Laute und Geräusche hören wir nicht, wenn wir nicht darauf achten oder darauf hingewiesen werden.

Wer offen für Neues ist, wer fragt und sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufriedengibt, der entdeckt oft Einzigartiges, manchmal sogar eine neue Welt. Es gibt noch allerlei zu erkunden. Entdeckungen können ungeahnt beleben und erfreuen. Selbst wenn es sich dabei um eine antike Dauerwellenmaschine handelt.

 

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¹ Dauerwellenmaschine, Beispiel um 1950
² Ureinwohner sahen Kolumbus' Schiffe nicht. (Columbus-Effekt)



      

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Und am Morgen sagt ihr: Heute kommt schlechtes Wetter, denn der Himmel ist feuerrot und trübt sich ein. Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, die Zeichen der Zeit aber könnt ihr nicht beurteilen.

Matthäus 16:3


      

© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Freitag, 09-Aug-2024