Sie
gingen durch eine gläserne Eingangstür in
einen hellen, fast weißen Vorraum. Ein älterer
Herr begrüßte sie freudig lächelnd und
sagte dann: »Das Vorspiel hat schon begonnen.«
Er öffnete eine hölzerne Tür und sie
betraten die Kapelle, Roy voraus. Nachdem er sich umgeschaut
hatte, deutete er auf die vorletzte Stuhlreihe, in der
es noch etliche freie Sitzplätze gab.
»Ganz schön
voll hier. Und so viele kleine Kinder«, flüsterte
Gunda, blickte um sich und sah zum Podium. »Gibt
es hier kein Kreuz?«
»Nein«, erwiderte
Roy. »Lass uns später darüber sprechen.
Genießen wir das Vorspiel.«
»Und wo ist der
Altar?«
Roy legte sanft und kurz seine Hand auf ihren Unterarm
und lächelte. Gunda schwieg und sah sich weiter
um. An der Rückwand blickte sie durch mannshohe
Glasfenster in einen hellen Raum, in dem eine junge
Mutter das Baby auf dem Arm vermutlich in den Schlaf
wiegte. Nachdem die Orgel verklungen war, trat ein Mann
in einem ganz gewöhnlichen dunklen Anzug, weißem
Hemd und grün-weiß gestreifter Krawatte ans
Rednerpult, drückte das Mikrofon auf die Höhe
seines Mundes, und begrüßte die Gemeinde.
»Das ist unser Bischof«,
flüsterte Roy zu Gunda.
»Bischof?«
Gunda sah zu dem Mann und kräuselte die Nase. »Und
wo ist seine Bischofsmütze, die Mitra?« Sie
grinste. »In der Waschmaschine?«
»Bischofsmützen
gibt es hier nicht«, raunte Roy. »Das ist
eine Erfindung der Katholiken etwa eintausend Jahre
nach Jesu Kreuzigung. Weder Christus, noch Petrus, Paulus
oder sonst einer der alten Apostel trugen eine Mitra.«
Eine Dame in der Stuhlreihe
vor ihnen versuchte sich zu den Flüsternden umzudrehen.
Doch es wollte aufgrund ihrer Leibesfülle nicht
recht gelingen. Der Bischof sprach französisch
und Gunda versuchte zu verstehen, worum es ging.
Anschließend sang die ganze Gemeinde, laut und
kräftig. Ohne ein weiteres Wort trat nach dem letzten
Ton eine junge Frau ans Rednerpult, senkte den Kopf
und sprach ein Gebet. Gunda schnappte nur die eine oder
andere Vokabel auf. Als nach dem allgemeinen Amen, der
Bischof wieder das Wort ergriff, verstand sie nur, dass
jetzt irgendetwas mit einem Kind geschehen sollte. Mit
gerecktem Hals beobachtete sie, was dann vor sich ging.
Eine junge Frau und ein
Mann erhoben sich in der ersten Stuhlreihe. Sie trug
einen Säugling auf dem Arm und schritt die langsam
ansteigende Schräge für Gehbehinderte zum
nur wenig erhöhten Podium hinauf, obwohl sie gar
nicht körperlich behindert schien. Rechts neben
dem Rednerpult hatten sich inzwischen drei Männer
aus dem Publikum eingefunden, die neben dem Bischof
standen. Die junge Mutter übergab den Säugling
ihrem Begleiter und Ehemann, wie Gunda später erfuhr,
und ging auf ihren Platz zurück. Die Männer
gruppierten sich um das Baby und legten ihre Hände
unter es, als wollten sie es gemeinsam tragen. Der Bischof
zog sich zurück und gab einem weiteren Mann mit
einem Mikrofon an einem Stativarm in der Hand ein Zeichen.
Der hielt daraufhin das Mikrofon dem jungen Vater vor
den Mund. Laut und deutlich konnten alle Anwesenden
hören, was er sagte. Gunda vernahm, dass er dem
Kind den Namen Annabelle Christina gab, anschließend
noch etwa eine Minute sprach und mit Amen endete. Die
Gruppe öffnete sich zu den Anwesenden, der Vater
lächelte und hob den Kopf seiner kleinen Tochter
etwas an, damit die Gemeinde das schlafende Kind sah.
Es ging ein leises Raunen durch die Kapelle. Alle an
der Zeremonie Beteiligten nahmen wieder ihre Plätze
ein.
Gunda fühlte sich
schlagartig unwohl. In ihrem Bauch krampfte sich etwas
zusammen, als habe sie Verdorbenes gegessen. Da waren
sie wieder, unpassend wie stets, die aufwühlenden
Gedanken. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie
damals nicht nach Holland gefahren wäre? Es brachte
überhaupt nichts, darüber nachzudenken. Sie
hatte es getan, mit sechzehn Jahren. Niemand konnte
etwas daran ändern. Hatte sie eine Wahl gehabt?
Natürlich, man hat immer eine Wahl. Doch damals
sah sie nur einen Weg, einen einzigen. Aber - warum
verschwand die Erinnerung nicht einfach auf nimmer wiedersehen?
Es gab doch unzählig anderes, an das sie sich nicht
erinnern konnte. Warum tauchte das Geschehen in Holland
immer wieder auf? Es lag doch schon weit über zehn
Jahre zurück?
»Das war eine Kindersegnung«,
flüsterte Roy zu Gunda und unterbrach damit ihre
Gedanken, die er nicht bemerkt hatte.
Gunda hoffte, mit einer
Frage ihre Gefühlswallungen aufzulösen, was
auch gelang, indem sie fragte: »Warum wurde die
Segnung nicht vom Bischof ausgerichtet?«
»Später. Jetzt
wird das Abendmahlslied gesungen und das Abendmahl ausgeteilt.«
Am Abendmahlstisch links
vom Rednerpult hantierten zwei junge Männer, der
eine kniete nieder und sprach ein Gebet. Gunda hatte
nun erwartet, dass sich die Mitglieder nach vorn begaben,
um ihre Oblate in Empfang zu nehmen. Sie würde
nicht nach vorn gehen, denn die unguten Gefühle
hallten noch nach. Doch keine Menschenseele erhob sich,
außer vier Knaben, die je mit einer Schale vom
Abendmahlstisch zu den Stuhlreihen kamen. Sie reichten
dem jeweils Ersten in der Reihe das Gefäß,
aus dem der oder die sich ein Stückchen Brot nahm
und die Schale an seinen Sitznachbarn weiterreichte.
Am Ende der Reihe stand ein Junge, der das Gefäß
entgegennahm und damit an die übernächste
Reihe trat. Auf diese Weise hatte jeder Anwesende die
Möglichkeit, sich ein Stückchen Brot aus der
Schale zu nehmen, ohne seinen Platz zu verlassen. Nachdem
alle einen kleinen Brocken des ganz gewöhnlichen
Weißbrots gegessen hatten, trugen die Knaben die
mit einem Griff versehenen Schalen zurück zum Abendmahlstisch.
Auf die gleiche Weise wurde das Getränk an die
Anwesenden verteilt. Dafür hatten die Schalen einen
doppelten Boden. In Löchern steckten im oberen
Boden winzige Plastikgläser. Gunda schaute Roy
mit einem langen Gesicht an, nachdem sie ihr Gläschen
geleert hatte. Der schmunzelte sie an. Später erfuhr
sie, dass sie tatsächlich Wasser und nicht Wein
getrunken hatte.
Der Bischof trat nach
dem Abendmahl wieder ans Rednerpult und kündigte
an, dass nun zwei Mitglieder eine Ansprache halten würden.
Die erste Sprecherin war ein junges Mädchen von
etwa vierzehn Jahren. Sie sprach so schnell und verwendete
französische Wörter, die Gunda unbekannt waren.
Sie konnte nur mutmaßen, worum es ging und schaltete
nach kurzer Zeit innerlich ab. Danach trat ein etwa
vierzigjähriger Mann ans Mikrofon und redete in
englischer Sprache zur Gemeinde. Der Bischof stellte
sich neben ihn und übersetzte die Ansprache absatzweise
ins Französische.
»Das ist ein Physiker
aus den USA, der hier im CERN forscht und nur ein paar
Wochen hier ist«, flüsterte Roy zu Gunda.
»Und warum darf
der hier predigen?«
»Er ist auch Mitglied
der Kirche.«
Gunda nickte, sah zum
Rednerpult und kniff die Augen ein wenig zusammen. Der
Physiker sprach über Eingebungen des Geistes. Sie
verstand recht gut, worum es ging, weil sie es in zwei
Sprachen hörte. Nach der Ansprache erhoben sich
alle Anwesenden und sangen gemeinsam ein Lied zur Begleitung
durch die elektronische Orgel. Die Schlussansprache
hielt ein älterer Mann jenseits der siebzig, vermutete
Gunda, weil er auf einem Krückstock gestützt
ans Mikrofon trat. Bei dessen Französisch schaltete
sie wieder ab, weil es stark von einem ihr unbekannten
Dialekt durchsetzt war.
»Das war eine interessante
Erfahrung«, sagte Gunda zu Roy, als sie nach dem
Gottesdienst im Auto Richtung Genf fuhren. »Anders,
als die Gottesdienste, die ich bisher erlebte. Aber
angenehm. Mich haben sogar einige angesprochen und eingeladen,
nächsten Sonntag wieder zu kommen.«
»Freut mich, dass
du dich nicht bedrängt fühltest.«
»Wieso, die waren
doch alle freundlich zu mir.«
»Ich bemerke immer
wieder, dass Leute nicht in unseren Gottesdienst kommen,
weil sie nicht wissen, was da auf sie zukommt. Als hätten
sie Angst. Und die Furcht wird gerne von sogenannten
Sektenbeauftragten geschürt.«
Gunda lachte. »Sektenbeauftragte.
Das ist vielleicht absurd, wofür die großen
Kirchen da bezahlen. Und das Volk fällt darauf
rein, ohne es zu merken. Ich war mal bei so einer Veranstaltung
in Kegelbergen. Wie kann man einen Beauftragten der
katholischen Kirche fragen, ob die Neuapostolen bessere
Christen sind. Ist doch logisch, was der antwortet nach
dem Motto: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.«
Roy lächelte: »Das hast du klar durchschaut.
Man fragt ja auch nicht den Bäcker, ob das Brot
bei seinem Konkurrenten besser ist, sondern kauft einfach
mal da und dort, um sich ein Urteil zu bilden.«
»Du wolltest mir
noch erklären, warum es bei euch in der Kirche
keinen Altar gibt«, sagte Gunda. »Den gibt
es doch in allen christlichen Kirchen.«
...
»Mir
geht noch ein Satz des Amerikaners nach«, unterbrach
Gunda, bevor Roy womöglich mehr über den Altar
ausführen konnte. »Er zitierte in der Ansprache
einen Propheten Young und sagte, dass alle Weisheit
und alle Künste und Wissenschaften in der Welt
von Gott sind. Glaubst du das?«
»Ja sicher. Er zitierte
Brigham Young, der vor über hundert Jahren lebte
und in etwa sagte: Von Gott hat jeder Astronom, jeder
Künstler und Mechaniker, der je auf Erden gelebt
hat, seine Erkenntnis. Neue Ideen, neue Erfindungen
kommen ja nicht aus dem Nichts. Im Nichts ist nichts.
Deshalb nennt man es ja das Nichts.«
»Moment mal, Gott schuf doch die Erde aus dem
Nichts, laut Bibel«, wandte Gunda ein.
»Das ist ein verbreiteter
Irrtum«, erwiderte Roy. »Wenn man die Bibel
genau liest, kommt man dahinter, dass Gott die Erde
nicht aus dem Nichts schuf. Da heißt es doch gleich
in den ersten Zeilen der Bibel: Am Anfang schuf Gott
Himmel und Erde. Kein Wort davon, dass er Himmel und
Erde aus dem Nichts schuf. Und eine oder zwei Zeilen
weiter ist zu lesen, dass Gottes Geist über dem
Wasser schwebte. Wo kam das Wasser her? Hat er es aus
dem Nichts erschaffen? Kein Wort darüber in der
Bibel. Hinzu kommt, dass Gott als Schöpfer bezeichnet
wird, der die Schöpfung vollendete, laut Bibel.
Unter Schöpfen versteht man allgemein, dass man
beispielsweise Erbsensuppe mit einer Kelle oder einem
entsprechenden Gerät aus einem Topf in einen Teller
schöpft. Wenn aber nichts im Topf ist, kann nichts
geschöpft werden. Bei der Erschaffung der Erde
schöpfte Gott demzufolge. Anders ausgedrückt,
er schöpfte etwas, was schon vorhanden war und
schuf daraus die Erde mit allem, was dazugehört.«
...
»Hm«,
machte Gunda. »Kommen wir noch mal auf die Inspiration
zu Erfindungen zurück. Dann bedeutet das ja, dass
Gott auch die Erfinder von Pistolen, Giftgas und der
Atombombe inspirierte. Ist er dann nicht auch verantwortlich
für all das Unheil, das die Waffen anrichten?«
»Nein«, erwiderte
Roy trocken. »Es kommt immer auf den Gebrauch
aller Erfindungen an. Nehmen wir beispielsweise ein
ganz einfaches Werkzeug, den Hammer. In jedem Werkzeugkasten
gibt es mindestens einen. Manche sind groß, andere
winzig. Man kann damit einen Nagel in die Wand schlagen
und ein wunderschönes Bild daran aufhängen.
Mit einem Hammer kann man aber auch jemandem den Schädel
einschlagen, was gelegentlich vorkommt. Und so verhält
es sich mit allen Erfindungen. Man kann sie zum Nutzen
der Menschen einsetzen, aber auch zur Vernichtung. Jede
Sache hat zwei Seiten. Das hat Gott so eingerichtet,
damit man sich entscheiden kann. Sonst könnte man
das Gute gar nicht erkennen.«
»Und wo liegt der
Nutzen bei der Erfindung der Atombombe?«, hakte
Gunda nach ...
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