Einführung:
Bernd, der Protagonist meines Romans »Schlummernde
Leben«, ist davon überzeugt, dass es keine
Seelenwanderung oder Reinkarnation gibt. Doch seine
Freundin Martina behauptet, schon mehrmals in verschiedenen
Körpern auf der Erde gelebt zu haben. Für
Bernd sind Martinas Schilderungen nicht glaubwürdig.
Bernd lernt Hypnotisieren und will Martina mit einer
Rückführung vor ihre Geburt davon überzeugen,
dass es keine früheren Leben gibt. Hier sein erster
Hypnoseversuch. Zur Sicherheit ist Martinas Freundin
Karin anwesend.
Rechtzeitig, zwei Minuten vor neunzehn Uhr dreißig
klingelte Bernd bei Martina. Der Türsummer ertönte
und Bernd stieg bis zum fünften Stockwerk hinauf,
wo Martina ihn in der Tür stehend erwartete. Karin
war schon da.
Okay, am besten machen
wir es wie der alte Sigmund, sagte Martina, nachdem
Bernd sich in einen Sessel gesetzt hatte.
Ich dachte, der hieß
Hermann, dein Onkel. Bernd sah Martina fragend
an.
Von dem spreche ich doch
nicht. Ich meine Sigmund Freud. Also ich lege mich aufs
Bett und du setzt dich auf den Sessel, den wir ans Kopfende
stellen. So müssen wir uns nicht ins Gesicht sehen.
Das könnte bei deinem ersten Hypnoseversuch nämlich
sehr störend sein. Karin, du setzt dich am besten
dort auf den Stuhl am Tisch.
Schnell war der Sessel entsprechend
gerückt, Karin auf ihrem Beobachtungsplatz und
Martina legte sich auf ihr Bett. Bernd räusperte
sich und begann dann mit etwas belegter und tiefer Bassstimme
zu sprechen.
Du fühlst dich wohl.
Es ist friedlich um dich. Du kannst dich fallen lassen.
He, kannst du nicht normal
reden, kicherte Martina los.
Man muss ruhig und monoton
sprechen. Also konzentriere dich jetzt bitte wieder.
Aber du brauchst doch
deine Stimme dabei nicht verstellen, protestierte
Martina. Ruhig und Monoton ist schon okay.
Aber rede doch bitte normal.
Bernd begann erneut mit seinem
Text. Doch bereits nach dem dritten Satz merkte er an
Martinas Glucksen, dass er in seinen in der Nacht einstudierten
Tonfall gerutscht war. Auch Karin versuchte, ihr Kichern
zu verbergen.
Also wenn du nicht normal
redest, wird das nie was, sagte Martina kategorisch.
Mein Onkel hat auch ruhig und monoton gesprochen.
Aber er hat seine Stimme nicht verstellt.
Bernd stöhnte und begann
erneut: Bleib ruhig liegen. Du kannst dich
jetzt völlig entspannen. - Ich glaube, es ist zu
hell hier, unterbrach Bernd sich selber. Wir
sollten die Lampe verdunkeln.
Martina stimmte zu und holte
ein orangefarbenes Handtuch aus dem Schrank, das sie
über den Lampenschirm der Stehlampe hängte.
Das Zimmer war jetzt in ein warmes Dämmerlicht
getaucht. Karin äußerte erste Zweifel, ob
Bernd die Anweisungen auch richtig studiert habe. Im
Geiste ging Bernd noch einmal die übrigen Bedingungen
für eine erfolgreiche Hypnose durch. Das Zimmer
war ruhig. Nur wenig, kaum hörbarer, ganz dumpfer
Straßenlärm drang durch die geschlossenen
Fenster. Die Temperatur war angenehm. Da Martina sonst
ja auch in diesem Zimmer schlief, sollten die äußeren
Umstände jetzt sehr günstig sein. Bernd begann
erneut mit seinem Text.
Du wirst jetzt müde,
ganz müde und deine Augen werden schwer und immer
schwerer. Du kannst jetzt die Augen schließen.
Schließe die Augen und schlafe ein! Schlafe! Schlafe
tief und fest, ganz tief und fest!
Bernd beugte sich etwas vor,
um zu, sehen ob Martina die Augen geschlossen hatte.
Die Augen waren geschlossen. Schon wollte Bernd sich
zurücklehnen, als er Kaubewegungen ihres Unterkiefers
registrierte. Entsetzt donnerte er los.
He, was ist das denn!
Martina riss die Augen auf.
Hast du etwa einen Kaugummi
im Mund?, fragte Bernd ungläubig.
Martina sah ihn mit großen
Augen an, senkte den Blick und spuckte das Kaugummi
aus und legte es auf das Papiertaschentuch auf dem Nachttisch.
Entschuldige.
Wieso darf sie kein Kaugummi
im Mund haben?, fragte Karin.
Mit Kaugummi im Mund geht
es nicht, dozierte Bernd. Sie soll sich
doch entspannen. Und die Muskelbewegung beim Kauen ist
eine ständige Anspannung. Wieder zu Martina
gewandt fuhr er fort: Oder hat dein Onkel das
etwa auch geschafft, mit Kaugummi? Verdammt, muss man
bei dir aufpassen.
Als von Martina keine Antwort
kam, begann Bernd von neuem.
Leg dich jetzt wieder
ganz ruhig und bequem hin. Entspanne deinen Körper.
Atme langsam und ruhig. Achte auf alles, was ich dir
sage. Sieh jetzt den goldenen Baldachin oben an deiner
Deckenlampe an. Fixiere den Baldachin. Lasse deine Augen
in keiner weise abschweifen. Deine Augen werden jetzt
schnell müde und schwer.
Martinas Bauchdecke vibrierte
und Bernd sagte laut: Okay, du kannst ruhig lachen.
Was war jetzt wieder los?
Auch Karin lachte laut auf.
Martina richtete sich auf und setzte sich schmunzeln
auf die Bettkante.
Ich wusste noch gar nicht,
dass ich einen goldenen Baldachin in meinem Zimmer habe.
Sie sah zur Decke.
Irritiert schaute Bernd ebenfalls
zur Zimmerdecke: Die kleine Messingkapsel am Ende
des Lampenstiels, dort, wo das Elektrokabel drunter
versteckt ist. Das ist ein Baldachin. Noch nie gehört?
Nee.
Also irgendwie ist heute
der Wurm drin, sagte Bernd. Na ja. Ist ja
auch mein erster Versuch. Muss ja nicht gleich klappen.
Aber beim nächsten Mal kriege ich es hin.
Da ist noch etwas, was
wichtig ist, begann Martina. Als Medium
muss man zum Hypnotiseur ein tiefes Vertrauen haben.
Sonst geht es auch nicht.
Bernd sah sie mit offenem Mund
an und holte Luft, doch sie kam ihm zuvor.
Ich will damit nicht sagen,
dass ich dir nicht vertrauen würde. Aber im Grunde
kennen wir uns kaum. Was weiß ich schon von dir?
Du hast bei unseren Treffen meistens nur mir zugehört.
Ich vermisse noch eine gewisse Vertrautheit. Verstehst
du, was ich meine? Hinzu kommt, dass du noch nie jemanden
hypnotisiert hast. Da bin ich dann auch etwas misstrauisch
und achte vielleicht zu stark auf die Art und Weise,
wie du vorgehst, als auf das, was du sagst und wie du
es sagst.
Ja, ich glaube auch, dass
du noch etwas mit dir allein üben musst,
meldete sich Karin. Also ist die Sitzung für
heute beendet. Dann könnte ich ja noch etwas erledigen.
Was habt ihr vor?
Bist du mit dem Auto da?,
fragte Martina den stumm dastehenden Bernd.
Ja.
Dann lass uns nach Heidelberg
fahren. Aufs alte Schloss. Von dort kann man so schön
auf die Lichter der Altstadt sehen. Keine gute Idee?
Ja, okay.
Gemeinsam stiegen alle drei
die Treppen hinunter. Karin verabschiedete sich und
Bernd führte Martina zu seinem alten Opel.
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