Der
Mann sah aus, als wären alle Geschlechter der Welt
in ihm vereint. Alt, mindestens achtzig, heiter mit
ausgeprägten Gesichtsfalten, von denen jede eine
Geschichte zu erzählen schien. Dunkelbraune Haut
und glasklare, hellblaue Augen, die keine Brille brauchten
und offenbar über alle Weltmeere gesehen hatten.
Unter seiner Schiffermütze lugte weißes Haar
hervor. Er war von mittlerer Gestalt, kein Gramm Fett
zu viel, und wirkte beim Gehen immer noch etwas drahtig.
Zunächst fand ich den
Vorschlag des Alten lächerlich, dann wollte ich
mal nicht so sein und schließlich wurde ich nachdenklich.
Wir begegneten uns auf der
Mole in Glückstadt. Es war einer jener ersten Frühlingstage,
an denen man gerne auf dem Deich spazieren geht und
dann am Hafen anlangt. Die Sonne hatte vor etwa einer
Stunde den Zenit überschritten, als ich mich zu
dem Alten auf die Bank setzte. Wir blickten von der
Mole in Richtung Nordwest auf die Elbe. Es wehte nur
ein leises Lüftchen. Das Wasser bewegte sich kaum.
»Das is ein Zwilling«,
sagte der Alte unvermittelt, den Blick aufs Wasser gerichtet.
Als er meinen fragenden Blick
sah, fügte er erklärend hinzu: »Der
da am Ruder des Tankers.« Doch ich verstand immer
noch nicht. Jenseits der Sandbank zog ein riesiger Tanker
in Richtung Hamburg vorbei. »Der, der da den Tanker
steuert, ist unter dem Sternzeichen Zwilling geboren.«
»Woher wollen Sie das
denn wissen?«
»Das sehe ich an der Fahrweise
des Schiffes«, sagte er völlig ernst.
Aha, dachte ich, jetzt kommt allerschönstes
Seemannsgarn. Also fragte ich weiter und ließ
ihn erzählen. Als ginge es um erworbene Einmaleinskenntnisse,
berichtete er mir von seiner Fähigkeit, das Sternzeichen
desjenigen zu erkennen, der ein Schiff steuere. Drüben
am Ruder der Fähre, die gerade abgelegt habe, da
stehe jetzt ein Steinbock. Die hätten offenbar
gerade Schichtwechsel gehabt. Denn als die Fähre
anlegte, habe noch ein Löwe das Ruder bedient.
Schließlich reichte es mir
und ich fragte belustigt: »Haben Sie noch so tolle
Geschichten auf Lager?«
»Sie glauben mir wohl nicht?«,
sagte der alte Seebär gekränkt. »Ich
mach Ihnen einen Vorschlag. Stellen Sie mich doch auf
die Probe. Wetten, dass ich das Sternzeichen von jedem
an der Ruderpinne errate?«
»Wie soll ich das denn kontrollieren?«,
fragte ich.
»Ganz einfach, Sie suchen
sich ein oder zwei Schiffe aus. Ich sage Ihnen, welches
Sternzeichen der Mann am Ruder hat. Anschließend
fragen wir ihn.«
»Aber die Schiffe da drüben
hinter der Sandbank fahren ja alle nach Hamburg«,
wandte ich ein, »das ist mir ein bisschen zu aufwendig.
Außerdem glaube ich nicht an diesen Astrologie-Hokuspokus.«
»Sie brauchen ja nur solche
Pötte zu nehmen, die hier nach Glückstadt
kommen«, schlug der Alte unbeirrt vor. »Das
sind zwar nicht so viele, aber sehen Sie mal da, da
kommt gerade einer ums Leuchtfeuer.«
»Jaja, den kennen Sie bestimmt
und wissen, wer am Ruder steht. Sie wollen mich wohl
auf den Arm nehmen.«
Doch der Alte beteuerte, dass er
weder das Schiff noch seine Besatzung kenne. In Glückstadt
kenne er fast überhaupt keine Schiffer. Er sei
nämlich in Brunsbüttelkoog zu Hause und nur
für ein paar Tage bei seiner Schwester in Glückstadt
Nord zu Besuch. Zum Beweis zog er auch noch seinen Personalausweis
hervor und hielt ihn mir unter die Nase. Ich sah kaum
hin. Denn die Sache erschien mir immer noch lächerlich
und reines Seemannsgarn. Damit die Wette für mich
auch seinen Reiz habe, schlug er einen Einsatz von zwanzig
Mark vor. Vielleicht brauchte er Geld, kam es mir in
den Sinn. Vielleicht saß der Alte hier jeden Tag
stundenlang auf der Mole, kannte alle Schiffe und alle
Seeleute und stockte auf diese Weise seine Rente auf.
Und was waren schon zwanzig Mark. Ja, sollte er ruhig
vierzig Mark für diese originelle Idee haben. In
Gedanken strich ich Sie bereits aus meinem Budget.
Ich suchte zwei Schiffe aus,
die den Glückstädter Hafen ansteuerten. Von
Süden her überholte ein prächtiges Segelschiff
gerade einen Fischkutter. Am Heck des Segelschiffes
hatte ich die holländische Flagge erkannt. Vielleicht
war das Schiff noch nie in Glückstadt gewesen.
Und der Kutter, na ja, der war vielleicht aus Glückstadt
und dem Alten bestens bekannt.
Wir wechselten die Bank, damit wir
die sich nähernden Schiffe besser beobachten konnten.
Der Zweimaster hatte schon fast die Südermole erreicht.
Konzentriert blickte der Alte aufs Wasser und murmelte,
dass es bei Segelschiffen etwas schwieriger sei.
Als
das Segelschiff in den Hafen einbog, schaute ich mir
den Steuermann genau an. Ein paar Minuten später
kam auch der Kutter herein. Den Mann im Ruderhaus konnte
ich deutlich erkennen. Rotes Gesicht, dunkelblaue Pudelmütze,
gelben, oder einmal gelb gewesenen, Pullover.
»Also«, sagte der alte
Seebär neben mir. »Das Segelschiff hat ein
Wassermann gesteuert. Und der auf dem Kutter war ein
Stier.«
Wir
erhoben uns und marschierten auf den Anlegeplatz des
Segelschiffes zu. Der Kutter schien gleich dahinter
festmachen zu wollen.
»Gute
Fahrt gehabt?«, fragte ich den Steuermann des
Segelschiffes, der gerade seine Taue auf der Kaimauer
kontrollierte. Und ohne eine Antwort abzuwarten fragte
ich weiter: »Kommen Sie jeden Tag nach Glückstadt?«
»Wiescho?«,
fragte der Mann.
Sein
holländischer Akzent kam bereits in diesem einen
Wort zu vollendetem Wohlklang. Ohne dass der Alte neben
mir auch nur ein Wort sagte, erfuhr ich, dass der Holländer
das erste Mal in Glückstadt war. Bereitwillig verriet
er mir auch seinen Geburtstag: 30. Januar 1949. Der
Alte hatte recht, er war im Sternzeichen des Wassermanns
geboren. Großzügig überreichte ich dem
alten Seebär einen Zwanzigmarkschein. Sein wettergegerbtes
Gesicht erhellte ein zufriedenes Grinsen.
Beim
Fischkutter verlief das Gespräch ähnlich.
Der Kapitän und Steuermann war tatsächlich
im Sternzeichen Stier geboren. Er schien den Alten wirklich
nicht zu kennen. Um vierzig Mark erleichtert, wollte
ich nun aber von dem Alten wissen, wie er das heraus
bekommen habe. Ich würde auch den Mund halten und
das Geld nicht zurückverlangen, falls es ein fauler
Trick sei.
»Ich
habe jahrelang die Schiffe beobachtet«, sagte
der Alte, »bin zur See gefahren und bei uns in
Brunsbüttel kommen ja noch viel mehr vorbei. Da
fiel mir eines Tages auf, dass jeder sein Schiff anders
steuerte. Jo, und so bin ich dahinter gekommen.«
Er machte eine Pause. »Die Menschen sind eben
nicht alle gleich.«
Diese
Antwort war für mich äußerst unbefriedigend.
Mein Verstand sagte mir klar und deutlich: Der Alte
kennt einen Trick. Sollte er ihn ruhig für sich
behalten und weiterhin Touristen zwanzig Mark abknöpfen.
Wir verabschiedeten uns, ich stieg ins Auto und fuhr
in Richtung Marktplatz. Unterwegs schaltete ich das
Radio ein.
»Eine
neue Studie hat ergeben, dass eine Wechselbeziehung
zwischen dem Geburtstag des Autofahrers und der Unfallhäufigkeit
besteht«, klang es aus dem Lautsprecher. Das konnte
ja wohl nicht wahr sein. Ich drehte das Radio lauter.
»Danach verursachen Skorpione die wenigsten und
billigsten Unfälle. Sitzen hingegen Jungfrauen
am Steuer, so werden die teuersten Blechschäden
registriert.«
Ich
blickte auf das Kalenderfenster meiner Armbanduhr. Der
erste April war wirklich schon lange vorbei. Aus dem
Autoradio folgten immer noch seriös klingende Erläuterungen
über die Wechselbeziehung zwischen Tierkreiszeichen
der Fahrer und deren Unfallhäufigkeit. Wenn das
bei Autofahrern so war, dann hatte der alte Seebär
am Hafen vielleicht doch recht und konnte wirklich das
Sternzeichen des Steuermanns an der Fahrweise erkennen.
Ich
kann es immer noch nicht glauben. Aber wie lange wird
es jetzt wohl dauern, bis die Auto Versicherer Tierkreiszeichen-Tarife
einführen?
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