Leseproben
      
 
Borki will den Winter sehen
aus

    „Wozu brauchen wir denn so viel neues Heu in unserem Schlafsaal?“, fragte Aski, das kleine, braune Murmeltier, als seine Mutter wieder aus der Höhle heraus kam, in die es gerade einen Ballen Heu geschleppt hatte.
    „Für den Winterschlaf“, erklärte die Mutter. „Nächste Woche legen wir uns alle zum Winterschlaf hin.“
    Aski war aber noch sehr jung. Erst diesen Sommer wurde er geboren und kannte noch keinen Winter und keinen Winterschlaf. Bereitwillig erklärte ihm die Mutter, dass alle Murmeltiere den ganzen Winter über in ihrem Schlafsaal schlafen. Der Winter sei nämlich die kälteste Zeit des Jahres. Dann läge draußen eine dicke Schneedecke und alle Teiche und Seen wären zugefroren. Nirgends würden sie Gras oder Pflanzen zum Fressen finden. Kurz: Der Winter sei sehr gefährlich und nichts für Murmeltiere. Deshalb legten sie sich alle schlafen. - Aufgeregt rannte Aski daraufhin zu seinem Freund Borki.
    „Du, hast du schon gehört, nächste Woche fangen wir mit dem Winterschlaf an?“
    „Ja“, sagte Borki gelangweilt. „Mein Vater hat mir heute morgen alles erklärt. Ich wüsste doch zu gerne, ob das wirklich stimmt mit dem vielen Schnee, der hier auf unserer Wiese liegen soll. Und ob der Teich unten am Hang wirklich zufriert und dann hart wie ein Felsen ist, so dass man darauf herumlaufen kann? Glaubst du das wirklich?“
    „Ja, warum denn nicht?“
    „Weil noch keiner von unserer Familie den zugefrorenen Teich gesehen hat. Und darauf hergelaufen ist erst recht keiner. Die erzählen nur alle davon. Ich möchte aber sehen, wie der Teich hart wird, und ich möchte darauf herumlaufen. Das wäre doch toll. Machst du mit?“
    „Ich weiß nicht“, sagte Aski und zupfte an seinen Schnurrhaaren. „Meine Mutter hat gesagt, dass der Winter sehr gefährlich für Murmeltiere ist.“
    „Ach was.“ Borki wandte sich ab und ließ sich einfach den Hang hinunter kullern.
    Aski folgte ihm. Sie spielten wie sonst den ganzen Tag zwischen den Felsen und erhielten von einem Wanderer, der an ihnen vorbeikam, jeder einen süßen, knusprigen Keks zu knabbern. Sie redeten nicht mehr über den Winterschlaf. Aber für Borki stand fest, er würde nicht einfach den ganzen Winter verschlafen.
    In der folgenden Woche versammelte sich die ganze Murmeltiersippe im großen Schlafsaal der Höhle. Ein dicker Heuteppich bedeckte den Boden. Carlo, ein altes graues Murmeltier, war der Häuptling der Sippe. Er teilte jedem seinen Schlafplatz zu. Die jungen Murmeltierkinder erhielten einen Schlafplatz ganz in der Mitte des Saales. Die älteren Tiere legten sich dicht um die Kleinen herum. Das passte Borki aber gar nicht. Er wollte lieber einen Schlafplatz am Rande der Gruppe. Nur ungern kam der alte Häuptling seinem Wunsch nach.
    Borki hatte sich nämlich vorgenommen, zu warten, bis alle eingeschlafen waren. Dann wollte er aufstehen, hinausgehen und sich den Winter ansehen. Wenn er aber erst über alle anderen Murmeltiere hinübersteigen müsste, würde er sie bestimmt aufwecken, und sie würden ihn nicht fortlassen.
    Es dauerte einige Tage bis Borki den Eindruck hatte, dass alle von der Sippe fest schliefen. Vorsichtig stand er auf und kroch leise die Röhre zum Ausgang hinauf. Der Ausgang war mit einer Mauer aus Lehm verschlossen. Doch das war für Borki kein Hindernis. Mit seinen scharfen Krallen hatte er die Mauer schnell eingerissen und trat ins Freie. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen und ließ ihn nach Luft schnappen. Der Himmel war grau, und kleine weiße Flocken fielen herab. Dann sah er sie, die Wiese auf ihrem Hang. Sie war ganz weiß und glatt und roch ganz anders als im Sommer. Auch unten, wo sonst der Teich in der Sonne glitzerte, war jetzt eine blaugraue glatte Fläche. Begeistert sprang Borki auf und ließ sich den Hang hinunterrollen, wie er es so oft im Sommer getan hatte. Der Schnee war viel weicher als das Gras und die Felsen, auf denen er sonst hinunterrollte. Das machte Spaß.
    Und wie der Schnee aufwirbelte, als er zum Teich rannte. Vorsichtig tippte Borki mit der einen Pfote auf die Stelle, wo sonst das Wasser war. Tatsächlich, die glatte Fläche war hart. Mutig trat Borki auf das Eis - und fiel sogleich auf die Nase. Erst nach einigen Versuchen schaffte er es, sich auf die beiden Hinterpfoten zu stellen. Aber dann hatte er es schnell heraus, wie man sich auf dem Eis bewegen musste ohne hinzufallen. Tollkühn schlitterte Borki über den Teich. Seine Bahnen wurden immer länger. Der nächste Anlauf sollte ihn bis in die Mitte des Teiches bringen. Plötzlich knackte es. Borki sah sich um. Was war das? Da knackte es wieder. An seinen Pfoten spürte Borki Wasser. Es quoll aus einem Spalt zwischen seinen Pfoten. Entsetzt wollte Borki davonrennen. Doch er rutschte aus. Mit seinen Hinterpfoten rutschte er in den Spalt und konnte sich nur noch im letzten Augenblick mit den Krallen der Vorderpfoten am Eis festhalten. Sein ganzer Körper steckte jetzt im Wasser. Borki nahm all seinen Mut zusammen, krümmte sich und machte einen Satz aus dem Wasser aufs Eis. Das Eis knackte wieder unheimlich. Borki rannte so schnell er konnte zum Ufer. Erschöpft ließ er sich auf dem Schnee nieder. Sein ganzer Pelz war jetzt nass. Borki begann vor Kälte zu zittern.
    „Ich muss wieder in den Schlafsaal“, sagte Borki leise. „Der Winter ist doch zu kalt für Murmeltiere.“
    Borki begann den Hang zum Höhleneingang hinauf zu klettern. Doch er rutschte auf dem Schnee immer wieder aus und kullerte den Hang hinunter. Nach vielen Versuchen erreichte Borki schließlich völlig erschöpft den Höhleneingang. Aber, oh Schreck, der Höhleneingang war wieder zugemauert. Borki hatte keine Kraft mehr, die Mauer aufzukratzen. Hätte er doch bloß auf seinen Vater gehört, der ihn vor dem Winter gewarnt hatte. Mutlos sank Borki vor dem Höhleneingang zusammen.
Kurz nachdem Borki nämlich den Schlafsaal verlassen hatte, war der alte Häuptling Carlo aufgewacht. Der kalte Windzug vom Höhleneingang hatte ihn geweckt.
    „Nanu“, hatte Carlo zu sich selbst gesagt, „habe ich den Eingang nicht richtig zugemauert?“
    Carlo war daraufhin zum Eingang gekrochen und hatte die eingerissene Mauer entdeckt. Schnell hatte er sich ans Werk gemacht und den Eingang wieder verschlossen.
    Dass ein Murmeltier aufgestanden und in den Winter hinausgegangen sein könnte, auf den Gedanken kam der alte Carlo gar nicht. So dumm konnte kein Murmeltier sein. Und da es im Schlafsaal stockfinster war, bemerkte er auch nicht, dass Borki fehlte.
    Aski schlief indessen fest zusammengerollt in der Mitte des Schlafsaales. Um ihn herum schliefen die übrigen Sippenmitglieder. Er hatte es schön warm. Doch plötzlich erwachte Aski. Er musste zur Toilette. Die Toilette befand sich in einer anderen Höhle, zu der ein Gang führte. Vorsichtig stieg Aski über die schlafenden Murmeltiere. Er musste auch an Borkis Schlafplatz vorbei. Der hatte ja unbedingt am Rande schlafen wollen. Doch Borkis Schlafplatz war leer.
    „Borki!“, rief Aski leise.
    Nichts war zu hören.
    „Borki!“, rief Aski lauter.
    „Wer macht da so einen Lärm?“, der alte Carlo war wach geworden.
    „Borki ist weg!“, schrie Aski jetzt entsetzt.
    Auch die anderen Murmeltiere wachten nun auf. Der alte Carlo erinnerte sich an die eingerissene Mauer.
    „Dieser Lausebengel“, entfuhr es dem grauen Häuptling.
Er kroch zum Eingang und riss die frische Lehmmauer wieder ein. Da lag Borki, den Pelz voller Schnee und Eis. Er sah aus wie tot und konnte sich nicht mehr bewegen.
Carlo schleppte Borki in den Schlafsaal. Alle Murmeltiere waren froh, dass er wieder da war. Aber am meisten freute sich Aski, dass sein Freund noch lebte.
    Der alte Carlo verschloss wieder den Eingang und sagte: „Legt euch alle wieder schlafen. Der Winter ist nichts für Murmeltiere.“
    „Wie war es draußen?“, wollte Aski von seinem Freund wissen.
Doch Borki zitterte immer noch am ganzen Körper und konnte nicht sprechen.
Die Murmeltiersippe nahm Borki in die Mitte. Sie wärmten ihn auf und legten sich wieder schlafen. Diesmal blieb Borki liegen und nahm sich vor, erst wieder im Frühling aufzustehen.




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© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Freitag, 09-Aug-2024