Einführung:
Bernd, der Protagonist meines Romans »Schlummernde
Leben«, ist davon überzeugt, dass es keine
Seelenwanderung oder Reinkarnation gibt. Doch seine
Freundin Martina behauptet, schon mehrmals in verschiedenen
Körpern auf der Erde gelebt zu haben. Sie erzählt
Bernd von diesen früheren Leben. Im folgenden Auszug
berichtet Martina über ihr angebliches Leben bei
einem asiatischen Reitervolk. Dort sei sie keine Frau
gewesen, sondern habe im Körper eines jungen Mannes
gesteckt, der Schmono hieß.
Ich kam von einem Erkundungsritt zurück. Ich hatte
ein Tal, besser gesagt, ein großes Becken entdeckt,
in dem das Gras dichter stand und wo bereits neben den
weißen auch lila und gelbe Blumen hervorkamen.
Es sah unberührt aus. Womöglich hatte es vor
mir noch nie ein Mensch betreten. Jedenfalls fand ich
keine menschlichen Spuren dort.
Den
Winter über hatten wir am etwas tiefer gelegenen
Ufer eines ruhigen Flusses, der die Ebene durchzog,
in unseren Jurten gelebt. Rauer Wind und Schnee fegten
zuvor über uns hinweg. Ein dunkler Schatten in
der Ebene verriet mir die Position des Lagers. Einige
Bäume direkt am Flussufer ragten mit ihren Kronen
hinaus in die Ebene und warfen diesen Schatten. Von
weitem sahen sie wie niedrige Büsche aus.
Im
Lager begrüßte man mich mit lauten Willkommensworten.
Ich ritt sofort zu meinem Vater. Als Oberhaupt unserer
Sippe wohnte er in der größten Jurte, wo
ich mein Pferd laufen ließ. Es würde sich
nicht weit entfernen und auf meinen Pfiff sofort angetrabt
kommen. Gleich musste ich erzählen, ob ich eine
gute Lagerstelle gefunden hätte. Mein Vater wollte
keinen ausführlichen Bericht, sondern nur eine
kurze Information. Ich berichtete in wenigen Worten
von der Ebene, die ich im Süden entdeckt hatte
und erfuhr dann, dass mein Bruder Kalo bereits gestern
zurückgekommen sei und ebenfalls ein grünes
Tal gefunden habe, im Norden.
Mein
Vater trat vor die Jurte und sagte zu den Leuten, die
sich neugierig nach meiner Ankunft eingefunden hatten,
dass wir abends am Feuer einen ausführlichen Bericht
hören sollten. Danach entscheide man, ob wir nach
Norden, in das Tal, das mein Bruder Kalo gefunden hatte,
oder ob wir nach Süden ziehen sollten in die Ebene,
die ich entdeckt hatte.
Abends
zündeten die Männer große Feuer an und
schlachteten drei Schafe. Das Fleisch rösteten
sie über der Glut. Dazu tranken wir gegorene Stutenmilch
aus den Schädeln getöteter Feinde. Ich besaß
fünf weiße Schädel. Alle von Männern,
die ich selbst im Kampf mit Pfeil oder Dolch ins jenseits
befördert hatte.
Am
Feuer der Stammesältesten berichtete ich ausführlich
über die weite, grüne Ebene im Süden.
Auch mein Bruder berichtete noch einmal über das
Tal im Norden. Die Ältesten stellten Fragen. Wie
weit das Tal entfernt sei. Wie hoch das Gras stände.
Welche Blumen bereits blühten. Wie dicht das Gras
wüchse. Wie breit und tief der Fluss sei. Ob es
Fische im Fluss gäbe. Und vieles mehr.
Alle
stimmten darin überein, dass wir den jetzigen Lagerplatz
verlassen mussten. Im letzten Sommer hatten unsere Pferde-,
Rinder- und Schafherden alles abgegrast. Die Ebene um
uns gab nicht genügend für einen weiteren
Sommer her. Die Natur musste sich erholen. Viele weibliche
Tiere trugen bereits Nachwuchs in ihrem Bauch, würden
demnächst werfen und unsere Herden vergrößern.
Einige
Stammesälteste begeisterten sich für das Tal,
das mein Bruder gefunden hatte. Andere stimmten für
die Ebene, die ich entdeckt hatte, weil sie geeigneter
für unseren Stamm sei. Man debattierte und trank
gegorene Stutenmilch.
Spät
in der Nacht breitete unser Schamane auf einem Ziegenfell
ein paar Knochen vor sich aus. Es handelte sich um einige
Knochen von den Schafen, die wir verzehrt hatten. Sie
waren fein säuberlich abgenagt worden. Nicht einmal
Knorpel konnte man mehr daran finden. Alles Gespräch
verstummte. Selbst die Kinder, falls sie nicht schon
schliefen, hielten die Luft an. Alle lauschten der Stille
der Nacht, einem feinen Rauschen des sanften Windes
über die weite Ebene, durch das flache Tal und
um die Jurten. Aus der Feuerglut züngelten nur
noch winzige Flämmchen.
Der
Schamane murmelte vor sich hin und machte rhythmische
Bewegungen mit dem Oberkörper, vor und zurück,
vor und zurück. Immer wieder. Er saß im Schneidersitz
vor der heißen Glut. Zwischen ihm und den glühenden
Kohlen lagen die Knochen ausgebreitet. Nach den langen
Gesprächen stimmte eine knappe Mehrheit für
die Ebene im Süden. Jene Ebene, die ich gefunden
hatte. Nun musste der Schamane die Götter befragen.
Durch die Knochen sollten die himmlischen Wesen ihm
ihre Meinung kundtun. Niemand zweifelte an dem Vorgehen.
Was immer der Schamane verkündete, dem stimmte
man zu.
Tschingo,
so hieß unser Schamane, schaukelte eine ganze
Zeit mit seinem Oberkörper vor und zurück.
Er hatte die Augen geschlossen. Plötzlich öffnete
er sie weit und ergriff einen der Knochen. Tschingo
betrachtete den harten Rest eines Hammelunterschenkels
in seiner Hand, als sei es das erste Gebein, das er
je zu sehen bekam. Dann warf er den Knochen in die rote
Glut. Es zischte ein wenig und kleine Qualmfahnen stiegen
auf. Angestrengt beobachte Tschingo den Knochen in der
Glut. Dann nahm er nach und nach weitere Knochen und
warf sie ebenfalls in die Glut. Wieder beobachtete er
mit starren Augen, wie sich die Knochen im Feuer verhielten.
Niemand sprach ein Wort. Schließlich lagen alle
Gebeine in der Glut. Als keine Qualmwölkchen mehr
aufstiegen und die Skelettreste sich nicht mehr von
der übrigen Glut unterschieden, erhob Tschingo
sich. Er streckte seine Arme gen Himmel, stieß
einen kurzen, tiefen Schrei aus und setzte sich wieder
vor die Glut.
Die
Ältesten legte getrocknete Kuhfladen und Pferdeäpfel
auf die glimmende Feuerstelle. Flammen schossen empor
und erhellten wieder die Nacht. Dann gab Tschingo den
Willen der Götter bekannt:
Zieht
in die Ebene im Süden, sagen die Götter. Das
Tal ist das beste für uns. Allerdings sagten sie
mir auch, dass es Probleme bei der Besiedlung gäbe.
Wir müssten um das Tal kämpfen. Doch die Empfehlung
der Götter ist eindeutig: die Ebene im Süden!
...
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